Im Oktober 2020 ist das Buch von Dr. Michael Utech im Verlag Karl Alber in der Reihe „Alber Thesen“ erschienen.

Es geht in den ersten zwei Kapiteln des Buches darum, mit grundsätzlichen Überlegungen über den Menschen und die Wissenschaft, das Konzept der ganzheitlichen Bewegungstherapie philosophisch zu fundieren. Im dritten Kapitel werden die theoretischen Überlegungen auf die praktische therapeutische Arbeit angewandt. Das Buch wird abgeschlossen mit dem Versuch einer Darstellung geschichtlicher und sozialpsychologischer Zusammenhänge, die den therapeutischen Situationen zugrunde liegen.

Das Buch ist als Baustein zu verstehen, eine Lücke zu schließen: Bereits in der Schule, aber auch in der bewegungstherapeutischen Ausbildung, werden kaum philosophische Themen behandelt. Sie gelten als zu abstrakt, zu theoretisch und speziell für therapeutische Maßnahmen als irrelevant.  Es wird aber übersehen, dass zum Beispiel philosophisch reflektierbare Denkbilder – wie Welt- oder Menschenbilder – unbemerkt jede praktische Handlung durchdringen und fundamental prägen. Einige solcher zumeist unbewussten Grundannahmen und Einstellungen werden in Dr. Utechs Buch im Kontext bewegungstherapeutischer Maßnahmen thematisiert und analysiert. Aus ihnen werden entsprechende Fragen abgeleitet, wie zum Beispiel: Was ist der Mensch? Warum wird man krank? Was kann man für die Gesundheit tun? Die hieraus erwachsenen Erkenntnisse sollen zum Denken und zum Diskutieren anregen und für den allgemeinen sowie therapeutischen Alltag des Patienten und des Behandlers fruchtbar sein.

·  Verlag Karl Alber
·  1. Auflage 2020
·  Gebunden
·  312 Seiten
·  ISBN: 978-3-495-49070-9

 

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Rezensionen

Hendrik Fenner

Dipl. Psych., Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapeut

In sehr gut verständlicher Art und Weise führt Utech den Leser ruhig und souverän an eine Integration bisher weitgehend getrennter, geradezu polarisierter Wissenschaftsdisziplinen, die mit unterschiedlichen Menschenbildern einhergehen, heran.  …

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Diese Integration betrifft die Betrachtung des menschlichen Leibes (Phänomenologie), des menschlichen Körpers (Naturwissenschaft) und der menschlichen Seele (verstehende Psychologie).

Da ist die Phänomenologie, die die unmittelbare, präreflexive Wahrnehmung des Subjekts in den Blick nimmt und den (phänomenalen) Leib in seiner ursprünglichen lebensweltlichen ambiguen Erfahrung beschreibt. Insbesondere bei Krankheiten oder Verletzungen, so Utech, kommt es zu einer Reflexion (durch Dritte oder durch die Person selbst) über die betroffene Person und ihres ansonsten weitestgehend im Verborgenen stattfinden Lebensvollzugs.  Hierdurch tritt unweigerlich ein Dualismus verschiedener komplementär zueinander stehenden Dimensionen zutage (Leib-Seele-Problem). Dieser Dualismus drückt sich unter anderem in verschiedenen Zugangsweisen zum Menschen aus:

  1. Ein materieller, physikalisch, naturwissenschaftlicher Zugang, der Messungen am menschlichen Körper beinhaltet.
  2. Ein seelischer Zugang, der durch Worte übertragende Bedeutungs- und Sinninhalte erfasst und lebensweltliche und damit auch soziale Größen einschließt.

Erstaunlicherweise ist der von Utech beschriebene ganzheitliche Weg, der nicht nur materielle, psychische und soziale, sondern auch phänomenologische Dimensionen in sich vereinigt, in der Literatur bewegungstherapeutischer Tätigkeitsbereiche[1]  noch nicht beschrieben worden.

Im zweiten Kapitel stellt Utech ein sehr interessantes eigenes Konzept vor, das nicht entsprechend tiefenpsychologischer Denkweise zwischen bewusstem und unbewusstem Zustand eines Menschen unterscheidet, sondern quer hierzu stehend zwischen präreflexiver und reflexiver Einstellung. Die reflexive Einstellung wird noch einmal untergliedert in alltagsreflexiv, wissenschaftlich-konkret und wissenschaftlich-abstrakt. Hierfür stellt die Berücksichtigung der bereits angesprochenen Phänomenologie und die von ihr thematisierte Lebenswelt das Eingangstor der Überlegungen dar. Mithilfe dieser neuen Einteilung gelingt es Utech, das Paradoxon zu beleuchten und verständlich zu machen, warum es möglich ist, dass dieselbe Person in bestimmten Situationen unterschiedliche Menschenbilder heranzieht und hiermit einhergehend z. T. widersprüchliche Einschätzungen zu einem Sachverhalt wie etwa der Begründung und der davon abgeleiteten Begegnungen von Krankheiten treffen kann, ohne sich dessen Gewahr zu werden.

Will oder soll die Bewegungstherapie den Menschen in seiner Komplexität begreifen, dann kann, darf, nein dann muss (Pathisches Pentagramm, v. Weizsäcker 1956) sie über den Alleingültigkeitsstreit divergierender Wissenschaftsdisziplinen hinauswachsen. Sie muss ein ganzheitlich orientiertes Modell entwickeln, das unterschiedliche wissenschaftliche Theorien analysiert, ihnen ihren Platz zuordnet und aufzeigt, welchen einzigartigen und unverzichtbaren Beitrag sie zu einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen liefern. Genau das tut Utech in diesem Buch:  ´Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie`. Darin entwickelt er erstmals ein Modell, das die Erkenntnisse verschiedener humanwissenschaftlicher Disziplinen zu einem umfassenden Bild ganzheitlich orientierter Bewegungstherapie zusammenführt. Er liefert eine in ihrer Klarheit und Prägnanz bemerkenswerte Bestandsaufnahme von Leben und Krankheit einerseits sowie von der Gesellschaft und den (lebens-)weltlichen Umständen andererseits, d.h. dem Zusammenspiel zwischen Subjekt und Welt: Zwischen Organismus und Umwelt (Der Gestaltkreis, v. Weizsäcker, 1950).

Im letzten Kapitel geht Utech der Frage nach, warum sowohl bei Ärzten bzw. Therapeuten als auch bei Patienten – häufig unbewusst – mechanizistische Ansichten über den Menschen dominieren, wenn es um die Erklärung und gedankliche Durchdringung von Krankheiten geht. Von diesen konkreten Anwendungsgebieten ausgehend stellt er schließlich die gesellschaftsübergreifende These – quasi als conditio humana – vor, nach der die Angst des Menschen im Sinne des Existenzialismus und der hieraus resultierende Wunsch nach maximaler Beherrschung von Unsicherheiten sowie zuletzt die Verdrängung des ´Memento mori´ eine maßgebliche Rolle spielen. 

Der Autor weist über den Status quo der heutigen Bewegungstherapie hinaus auf eine (neue) ganzheitliche Bewegungstherapie, die nicht nur heilen und korrigieren will, sondern die den Menschen anzuleiten vermag, seine auch psychische Gesundheit aktiv zu fördern und bisher schlummernde körperliche, leibliche und seelische Potentiale zu entwickeln.

Für den primär philosophisch interessierten Leser empfiehlt es sich, das Buch – wie üblich – von vorne nach hinten zu lesen. Für diejenigen aber, die sich vornehmlich für das neue Konzept einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie nach Utech interessieren, ist es auch möglich und sogar ratsam, mit dem dritten Kapitel zu beginnen. Bei Vertiefungsbedarf lassen sich mithilfe der zahlreichen Querverweise weitere in den ersten Kapiteln stehende, näher erläuternde Textpassagen leicht finden. Für das rasche Springen zwischen wichtigen Themen existiert außerdem ein Sachverzeichnis, was das pointierte und strukturierte Arbeiten mit dem Buch maßgeblich fördert.

Eine sehr lesenswerte Lektüre sowohl für Lernende als auch für (erfahrene) Praktiker, die bereit sind, sich einer zentralen Aufgabe der Philosophie zu stellen, die darin besteht, alltagsrelevantes Tun zu analysieren und zu reflektieren, denn: „Das Tun des Arztes“ – und (ich ergänze) des Bewegungs-, Ergo-, Physio-, Psychotherapeuten – „ist konkrete Philosophie.“ (Schipperges 1987).

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[1] Der Begriff „Bewegungstherapie“ umfasst nach Utech alle Therapiemethoden, die die Selbstbewegung und damit stets einhergehend auch die Wahrnehmung als Heilmittel nutzen. Hierzu gehören z. B. auch die Physiotherapie und die Ergotherapie.

Prof. em.  Dr. med. Wolfram Schüffel

FA für Innere Medizin, FA für Psychotherapie

Darwin sagte, er habe sich sich auf die Schultern Alexander von Humboldts  gestellt und sah sich hiernach in die Lage versetzt, die Entwicklung des Lebens zu beschreiben. – Von dieser Vorgehensweise sah sich der Bewegungstherapeut Michael Utech in Hannover bestimmt. …

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Er legt ein 308-seitiges Buch mit 300  sorgfältig aufeinander bezogenen Quellenangaben vor zum Thema einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie, die im JETZT (hier) einer deutschen Großstadt, derzeit auch unter den Bedingungen der Coronazeit  durchgeführt wird. Deren Grundlagen werden auf einer philosophischen Basis reflektiert.

Utechs Kernaussage ist:  Der Bewegungstherapeut ist einerseits Teil der ablaufenden Therapie, andererseits distanziert er sich jeweils von den konkreten Einzelwahrnehmungen,  um die sich entwickelnde Gestalt wahrzunehmen. Sein theoretischer Bezugspunkt ist der Gestaltkreis Viktor von Weizsäckers, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Arzt und Denker und nach dem Ersten Weltkrieg schrittmachend aufzeigte, dass im zwischenmenschlichen Bereich Bewegen und Wahrnehmen untrennbar miteinander verbunden sind. Diese Einsichten und hieraus zu ziehende Folgerungen können heute unter Bezug auf die Arbeiten von Edmund Husserl und Merleau-Ponty und deren Nachfolgern weltweit in ihrer medizinischen Bedeutung und im Sinne einer gesundheitsfördernden Weise aufgegriffen werden.

Das gelingt, indem nach Bedeutung und schließlich nach dem Sinn eines Bewegens wie eines Wahrnehmens gefragt wird.  Hierbei  werden Patient wie Behandler als wechselseitig voneinander abhängige Akteure gesehen. Das geschieht je nach „Drehbuch“ der beteiligten Akteure, d.h.  entsprechend deren Wissenschaftsverständnis, je nach vorliegender Situation und entsprechend den Möglichkeiten des Bewegungstherapeuten (S. 249).

Das Buch ist keine leichte Kost. Es stellt hohe Ansprüche an das Abstraktionsvermögen des Lesers. Für ein erstes Einlesen empfiehlt sich, das vorangestellte Zitat des Paracelsus (1493 – 1541) zu lesen:  „Der erste grund der arznei, welcher ist philosophia“ –

Ich selbst profitierte am meisten von der Lektüre dieses Buches, indem ich zunächst und für mich ganz persönlich  auf den Abschnitt zurückgriff  „Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie“ (240 – 255).  Rückblickend  erkannte ich jahrzehntelang sich wiederholende Behandlungsverläufe,  die mir zunächst als Assistenzarzt, dann als Internist und Psychotherapeut und schließlich im Team-Verband als  Klinikdirektor im Universitätsklinikum Marburg in geradezu regelhaften Abläufen begegnet waren. Beim Lesen erregten zwei wichtige Diagramme (243, 246) meine Aufmerksamkeit, nämlich deren Kennzeichnung durch die Worte  „Freude während und nach der Therapie“ bzw. „Therapeut während wissenschaftlicher Reflexion über den Patienten“. Diese 15 Seiten einer „Folgerung“ hat der Verfasser  inhaltlich eingebettet in den dritten Teil des Buches (S. 161 – 239), einer Art innerster Schale mit  der Überschrift „Ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie“.   –  Diese Seiten sind wiederum konzentrisch eingebettet in Teil 2, nämlich „Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild“ (S. 119 – 160). Die äußerste Schale und zugleich Teil 1  trägt die Überschrift „Wissenschaftliche Menschenbilder als Mensch – Welt – Konzepte“ (S. 25 – 118).

Nach einer Reflexion dieser Texte in ihrer schalenartig-konzentrischen Anordnung profitierte ich in einer ausgesprochenen Weise vom vierten Teil des Buches, nämlich „Epilog: Der Naturalismus in der Gesellschaft“ (S. 256 – 282). – Natürlich hatte ich anfänglich  die ersten Seiten (S. 9 – 29)  des Buches gelesen . Doch erst jetzt war mir deutlich geworden, dass es um die Bedeutung kontinental-europäischen mit dem Schwerpunkt  deutschsprachigen Philosophierens ging,  um  eine ganzheitlich praktizierte Bewegungstherapie als Teil  einer  Anthropologischen Medizin. Doch zum Kern dieser Einsichten stieß ich erst nach diesem erneuten und abschließenden Lesen von Vorwort und Einleitung (S. 9 – 29).

Das Buch hat mir dazu verholfen,  nahezu sechs Jahrzehnte einer  von mir verfolgten ganzheitlich orientierten und praktizierten Medizin zu reflektieren. Diese Medizin findet ihren transdisziplinären Niederschlag in der heutigen Psychosomatischen Grundversorgung und deren Kern einer  Balintschen Gruppenarbeit, die weltweit zu einem Alleinstellungsmerkmal heute in Deutschland  praktizierter ärztlicher Weiterbildung geworden ist.  Das sollte durchaus im Zusammenhang gesehen werden mit sonstigen Weiterentwicklungen wie etwa dem Wartburggesprächen (1992 – 2018), den Marburger Gesundheitsgesprächen (2019 fortlaufend) und nicht zuletzt in der studentischen Ausbildung in den Anamnesegruppen (1969/70, fortlaufend). Als teilnehmender Beobachter hatte ich das Privileg zu verfolgen, wie es dem Autor einerseits gelingt, eine 100-köpfige Zuhörerschaft für die von ihm praktizierte Bewegungstherapie zu gewinnen; andererseits den Einzelnen in deren/dessen gestalterischen Vermögen so anzusprechen, dass die Kennzeichen einer ganzheitlichen Bewegungstherapie nachspürbar und als Teil eines heutigen kulturellen Netzwerkes wahrnehmbar werden.

Das Buch ist für jede Situation einer Gesundheitsarbeit zu empfehlen, in der es um ein grundlegendes Verständnis für das intime Wirken menschlicher Kräfte im Prozess des Gesundens geht.

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